Menschen lieben, auch wenn sie nicht liebenswert erscheinen

Sarah-Maria Graber sucht Verbindungen zu Leuten, die darauf scheinbar keinen Wert legen.

Brené Brown erforscht zwischenmenschliche Beziehungen und trifft mit ihren Erkenntnissen offensichtlich den Nerv der Zeit: Das Video ihres Vortrags bei der Innovationskonferenz TED wurde weltweit mehr als 28 Millionen Mal angeschaut. Unter dem Titel „Die Macht der Verletzlichkeit“ berichtet sie darin über ihre Erkenntnisse aus sechs Jahren Forschung und ergründet, was Menschen einsam macht. Im Kern fand sie heraus: Menschen können sich leichter mit anderen verbinden, wenn sie glauben, dass sie es wert sind, geliebt zu werden und dazuzugehören. Sie sind mutiger, sind offener und zeigen sich verletzlich. Umgekehrt fällt es Menschen schwer, sich mit anderen zu verbinden, wenn sie an ihrem Wert zweifeln und sich fragen, ob sie gut genug sind.

Daraus entsteht ein Teufelskreis: Menschen mit Selbstzweifeln und Minderwert brauchen die Liebe und Anerkennung anderer besonders. Gleichzeitig fällt es ihnen besonders schwer, sie anzunehmen. Ihr Verhalten ist deshalb oft nicht liebenswürdig: Sie ziehen sich zurück, sie gehen Menschen aus dem Weg, tragen Masken und bieten wenig Angriffsfläche. Sie bleiben unberührbar.

DEN SCHREIENDEN NACHBARN LIEBEN

Vor einiger Zeit las ich ein passendes Zitat: „Wir sollten besonders dann Menschen lieben, wenn sie nicht liebenswürdig sind.“ Gottes Denken ist so anders als unser menschliches Denken: Wir lieben Menschen, wenn sie liebenswürdig sind. Er aber liebt Menschen – einfach so! Wir lieben Menschen, wenn sie es sich verdient haben. Er liebt Menschen, die es sich nicht verdient haben.

Für Hauskreise sehe ich darin eine große Aufgabe. Nicht nur im Hauskreis, sondern auch über diese Gruppe hinaus. Ich sehe die Aufgabe darin, den Nachbarn zu lieben, der sich schreiend über unser lautes Gelächter am Balkontisch beschwert. Oder die Bekannte, die immer noch nicht grüßt und sich lieber gelangweilt mit ihrem Smartphone beschäftigt als mit mir. Oder die Jugendlichen, die ebenfalls nicht grüßen, aber ihren Abfall ständig vor meinem Hauseingang hinterlassen.

Wenn wir im Hauskreis und darüber hinaus Verbindungen schaffen wollen, müssen wir Menschen lieben, bevor sie uns liebenswürdig erscheinen, damit sie liebenswürdig werden.

Sarah_Maria_Graber_HLM_400Sarah-Maria Graber leitet eine Community bestehend aus drei Hauskreisen in der Vineyard Bern.